Menschenhandel 2.0
Fachberatungsstellen, Polizei und andere Behörden beobachten eine zunehmende Digitalisierung des Menschenhandels, die es noch schwieriger macht, Täterketten nachzuverfolgen und der Hintermänner habhaft zu werden. Der KOK hat in einem jüngst erschienenen Bericht Menschenhandel 2.0 – Digitalisierung des Menschenhandels in Deutschland die Strukturen und Abläufe des digitalisierten Menschenhandels umfassend dargelegt. Moderne Informations- und Kommunikationstechnologien spielen eine wichtige Rolle bei der Anwerbung potentieller Opfer, die immer häufiger über soziale Medien erfolgt, bei der Schleusung nach Europa und bei der Kontrolle der Betroffenen, während sie in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern ausgebeutet werden. COVID-19 hat diese Entwicklung noch einmal beschleunigt.
Der KOK legt in seiner Abhandlung die bestehenden Mängel offen: „Es sind kaum technische Fähigkeiten vorhanden, um angemessen auf technologische Herausforderungen bzgl. IT-Sicherheit und den digitalen Modus Operandi der Menschenhändler*innen zu reagieren. Auch der von Unsicherheiten geprägte Umgang mit digitaler Beweissicherung stellt in der Praxis eine große Hürde für Betroffene in Bezug auf den Zugang zu ihren Rechten auf Gewaltschutz dar.“ (KOK, Menschenhandel 2.0, Seite 3).
Darüber hinaus berichten SOLWODI Sozialarbeiterinnen zunehmend, dass Klientinnen mit Missbrauchsbildern, die im Zusammenhang mit deren sexuellen Ausbeutung entstanden, erpresst werden. Dies geschieht vor allem bei Frauen, deren Familie im Herkunftsland nichts von der Tätigkeit in der Prostitution ahnt. Gelangen diese Bilder einmal ins Internet, ist die Verbreitung kaum noch zu kontrollieren und ein wirksames Löschen unmöglich.
Auf digitalen Prostitutionsplattformen werden häufig Bilder und Beschreibungen von Frauen veröffentlicht, die dem niemals zugestimmt haben und die erstaunt registrieren müssen, welche sexuellen Handlungen unter ihrem Namen angeboten werden. Die Internetprofile werden ohne Wissen der Frauen von Zuhältern und Menschenhändlern gemanagt. Man kann hier durchaus von einer Form des digitalen Identitätsdiebstahls sprechen.
Digitalisierter Menschenhandel zeichnet sich dadurch aus, dass die Täter viele Personen ortsunabhängig und gleichzeitig erreichen können. So ist es kein Problem, an einem Abend mit Dutzenden junger Mädchen im Internet zu chatten, um potenzielle Opfer herauszufiltern. Dabei suchen die Täter gezielt solche Frauen, die aufgrund ihrer Lebenssituation und psychischen Verfasstheit besonders vulnerabel sind. Mit Fake-Profilen geben die Täter sich ein ansprechendes und vertrauenserweckendes Aussehen und täuschen einen soliden Lebensstandard vor. Durch eine geschickte emotionale Ansprache bringen sie die jungen Frauen dazu, viele persönliche Details über sich preiszugeben, die sie später manipulierbar oder erpressbar machen. So überreden sie die Frauen auch sexuelle Handlungen an sich vorzunehmen und zu filmen, welche die Täter dann im Internet verkaufen können. Schrittweise werden die Frauen so an die sexuelle Ausbeutung herangeführt.
Zudem kann der Täter während des gesamten Anwerbe- und Ausbeutungsprozesses sich völlig sicher in einem anderen Land aufhalten und Direktiven mit Hilfe von Smartphones übermitteln. So wird der Transport potenzieller Opfer nach Europa oft von darauf spezialisierten Organisationen übernommen, die elektronische Anweisungen bekommen und den eigentlichen Täter weder mit seinem richtigen Namen noch seinen Aufenthaltsort kennen. Auch die Bezahlung der entsprechenden Dienstleistungen wird über digitalisierte Systeme abgewickelt.
Der KOK berichtet über einen Fall, in dem bulgarische Frauen mit falschen Versprechungen angeworben wurden, Bustickets und Weginformationen direkt auf ihr Smartphone gesandt bekamen und so den Weg nach Deutschland ohne unmittelbaren Täterkontakt zurücklegten. Die Frauen wurden in die Prostitution gezwungen, wobei die Akquise der Freier online erfolgte. Den Frauen wurden die Termine telefonisch übermittelt und die Freier zahlten über Paypal direkt an die Täter oder die Frauen mussten das eingenommene Geld durch Western Union überweisen lassen. (KOK, Menschenhandel 2.0, Seite 23)
Die Täter nutzen digitale Möglichkeiten, z.B. Videokameras in den Wohnungen oder Tracking-Apps auf dem Smartphone, um die Betroffenen während der Ausbeutung zu überwachen. Diese sind ihnen oft hilflos ausgeliefert, da sie die Sprache des Ziellandes nicht verstehen, Hilfsangebote weder kennen noch Zugang dazu haben, und durch die weitreichende Kontrolle der Täter, die jeden ihrer Schritte zu kennen scheinen, völlig verunsichert sind. Meist wissen die Frauen nicht einmal, dass Spyware auf ihren Mobiltelefonen installiert ist.
Auch nach einem Ausstieg versuchen Menschenhändler, über die sozialen Medien die Betroffenen ausfindig zu machen und Druck auszuüben. Insbesondere werden sie mit kompromittierenden Fotos und Videos erpresst, damit sie keine Aussage in einem Strafprozess machen. Die Betroffenen sind sowohl bei derartigen Drohungen als auch in der technologisch gesteuerten Ausbeutungssituation mit der digitalen Beweissicherung meist überfordert.
Kompetenzaufbau bei Strafverfolgungsbehörden, Justiz und auch Fachberatungsstellen sowie eine bessere technische Ausstattung, um Täter mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen, sind notwendig, um dem Phänomen des Menschenhandels 2.0 wirksam begegnen zu können.