Menschenhandel
Menschenhandel – auch in Deutschland?!
Menschenhandel, das verbinden viele mit vergangenen Jahrhunderten und fernen Ländern. Dabei ist Deutschland ein Hauptzielland für den internationalen Menschenhandel. Das BKA berichtet jedes Jahr im Bundeslagebild „Menschenhandel und Ausbeutung“ von rund 300 Fällen. Auch bei SOLWODI melden sich jedes Jahr mehrere Hundert Frauen, die Betroffene von Menschenhandel sind oder bei denen entsprechende Anzeichen bestehen. Die Dunkelziffer dürfte jedoch nach Meinung von Fachleuten wesentlich höher liegen und in die Zehntausende gehen. So werden im Bundeslagebild nur im Berichtsjahr abgeschlossene Ermittlungserfahren berücksichtigt. In vielen Fällen bleibt Menschenhandel jedoch unentdeckt oder die Opfer sind nicht zu einer Zeugenaussage bereit.
Die Gründe hierfür sind vielfältig: Einschüchterung durch die Täternetzwerke, Angst vor Repressalien gegenüber der Familie im Herkunftsland, aber auch der Wunsch, eine Re-Traumatisierung zu vermeiden und die schlimmen Erlebnisse hinter sich zu lassen. Den Betroffenen von Menschenhandel ist nur zu deutlich bewusst, dass in den Verfahren meist nur die „kleinen Fische“ bestraft werden, die Hintermänner bleiben im Dunkeln. Viele sehen daher kaum einen Sinn in einem Gerichtsverfahren, in dem sie großen psychischen Belastungen durch das Erzählen und damit verbundene erneute Erleben der eigenen Leidensgeschichte, durch die Konfrontation mit den Tätern und die meist aggressiven Befragungen durch gegnerische Anwälte ausgesetzt sind.
Was ist Menschenhandel?
Die Konvention gegen Menschenhandel des Europarats von 2005 definiert in Artikel 4 als Menschenhandel:
das Anwerben, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen
durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderen Formen der Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit oder durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen
zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die Gewalt über eine andere Person hat, zum Zweck der Ausbeutung.
Formen des Menschenhandels
Gemäß dem Bundeslagebild des BKA repräsentiert der Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung den größten Teil der Ermittlungen. Im Jahr 2023 waren es 299 Verfahren mit 406 Opfern, die zu über 90% weiblich waren. Besorgniserregend ist, dass jede dritte Betroffene unter 21 Jahre alt war. Bei 186 Verfahren mit kommerzieller sexueller Ausbeutung waren Minderjährige betroffen.
Dagegen gab es im Bereich des Menschenhandels zum Zweck der Arbeitsausbeutung nur 36 Verfahren mit 183 Betroffenen. Allerdings dürfte hier die Dunkelziffer besonders hoch sein und der Straftatbestand des Menschenhandels nur schwer nachweisbar sein, vor allem auch, weil sich die Betroffenen meist nicht als Opfer verstehen. Menschenhandel zum Zweck der Bettelei und zum Zweck der Begehung von Straftaten spielten mit vier bzw. drei Verfahren nur eine geringe Rolle. Weiterhin wurden 15 Verfahren im Bereich Zwangsheirat durchgeführt, eine Verdopplung gegenüber dem Vorjahr.
Menschenhandel ist ein Kontrolldelikt. Es werden mehr Ressourcen benötigt, um umfassend und zielgerichtet im Bereich des Menschenhandels ermitteln zu können.
Nigerianischer Menschenhandel
Viele Betroffene von Menschenhandel, die von SOLWODI beraten und begleitet werden, stammen aus Nigeria oder anderen westafrikanischen Ländern. Sie werden nach Europa verbracht, um sie dort sexuell auszubeuten. Die Menschenhändler verfügen über gut ausgebaute Netzwerke, um die Frauen über Grenzen hinweg zu schmuggeln. Oft stehen sogenannte Madams im Zentrum, Frauen, die meist selbst Betroffene von Menschenhandel waren. Mittlerweile dringen jedoch mehr und mehr nigerianische Geheimbünde, z.B. Black Axe oder Supreme Eye, in das Geschäft. Diese Vereinigungen zeichnen sich durch eine besonders hohe Gewaltbereitschaft aus. Auch in Deutschland ist eine zunehmende Ausbreitung dieser Form von organisierter Kriminalität zu beobachten.
(K)ein Aufenthaltsrecht für Betroffene von Menschenhandel
Vor dem Hintergrund von Gewalt und Ausbeutung, welche die Frauen auch und gerade in Deutschland erfahren haben, ist es umso unverständlicher und beschämender, dass diejenigen, denen es gelingt zu fliehen, von dem deutschen Rechtssystem im Stich gelassen werden. Die oft hochtraumatisierten Frauen benötigen einen gesicherten Aufenthaltsstatus, um sich zu stabilisieren und Perspektiven entwickeln zu können. Die Sozialarbeiterinnen von SOLWODI müssen jedoch feststellen, dass kaum noch eine nigerianische Frau ein Abschiebeverbot geschweige denn einen Flüchtlingsstatus erhält.
Wie lassen sich Betroffene von Menschenhandel identifizieren?
Expertinnen und Experten sind sich einig, dass es „das“ typische Opfer von Menschenhandel nicht gibt. Entsprechend schwierig gestaltet sich die Identifizierung von Betroffenen. Dennoch gibt es Anzeichen, die auf Menschenhandel hindeuten können. Im Rahmen des EU-Projektes Assist, an dem SOLWODI beteiligt war, wurde eine Liste erstellt, nach der Menschenhandel vorliegen kann, wenn eine Person:
durch falsche Versprechungen angeworben wurde (z.B. mit der Aussicht auf einen Arbeitsplatz);
keinen Zugang zu ihren eigenen Personaldokumenten hat;
damit bedroht wird, dass ihr illegaler Aufenthalt an die Polizei oder zuständige Behörden weitergegeben wird;
am Arbeitsort wohnt;
bedroht wird oder physische Gewalt erfährt;
gezwungen wird; in der Prostitution tätig zu sein.
Die Lage der Betroffenen und ihre Rechte
Für Betroffene von Menschenhandel ist es häufig sehr schwierig, auf ihre Lage aufmerksam zu machen und Unterstützung zu suchen. Fehlende Kenntnisse der Sprache und der örtlichen Strukturen erschweren es ihnen, Unterstützungsangebote zu finden. Dazu kommt, dass sie sich häufig nur im Umfeld ihres Tätigkeitsortes aufhalten (dürfen) und beobachtet werden. Die SOLWODI Sozialarbeiterinnen berichten, dass es für Frauen in der Prostitution oft schon eine unüberwindliche Hürde darstellt, eine nahegelegene Fachberatungsstelle aufzusuchen, weil sie sich in der Stadt nicht zurechtfinden und sich nicht trauen, das Bordell zu verlassen. Fehlende finanzielle Mittel, da die Betroffenen meist nicht über ihre Einkünfte verfügen können, sind ein weiteres Hindernis, um sich aus einer Zwangslage zu lösen.
Menschenhandel 2.0
Fachberatungsstellen, Polizei und andere Behörden beobachten eine zunehmende Digitalisierung des Menschenhandels, die es noch schwieriger macht, Täterketten nachzuverfolgen und der Hintermänner habhaft zu werden. Der KOK hat in einem jüngst erschienenen Bericht Menschenhandel 2.0 – Digitalisierung des Menschenhandels in Deutschland die Strukturen und Abläufe des digitalisierten Menschenhandels umfassend dargelegt. Moderne Informations- und Kommunikationstechnologien spielen eine wichtige Rolle bei der Anwerbung potentieller Opfer, die immer häufiger über soziale Medien erfolgt, bei der Schleusung nach Europa und bei der Kontrolle der Betroffenen, während sie in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern ausgebeutet werden. COVID-19 hat diese Entwicklung noch einmal beschleunigt.
Quellen
Viele der getroffenen Aussagen entstammen den Erfahrungen und Beobachtungen, welche die SOLWODI Sozialarbeiterinnen in der Beratung und Begleitung von Klientinnen machen. Außerdem sind die folgenden Quellen für einzelne Textabschnitte wichtig:
Bundeskriminalamt, Menschenhandel und Ausbeutung. Bundeslagebild 2023, Wiesbaden 2024
Europarat, Übereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels, 2005
KOK, https://www.kok-gegen-menschenhandel.de/startseite
Insbesondere:
https://www.kok-gegen-menschenhandel.de/menschenhandel/was-ist-menschenhandel/opferrechte
KOK, Menschenhandel 2.0 – Digitalisierung des Menschenhandels in Deutschland, 2022
Ressourcen
Der Bereich Ressourcen wird ständig aktualisiert. Über Hinweise und Ergänzung an freuen wir uns sehr.
Bücher
Aktuelle Leseempfehlung:
Völschow, Yvette / Gahleitner, Silke Brigitta (Hg.), Menschenhandel und Zwangsprostitution: Interdisziplinäre Perspektiven auf Prävention und Intervention, Weinheim 2021.
Filme, Dokumentationen, Radiobeiträge, Podcasts
Aktuelle Sehempfehlung:
DW, Wie Social Media Schleusern und Menschenhändlern hilft, Jan. 2024
Studien, Berichte und sonstige Materialien
Aktuelle Leseempfehlung
BKA, Bundeslagebild Menschenhandel, 2023
Presseberichte
Aktuelle Leseempfehlung:
30.07.2023 Weltkirche.de: Arbeitsgruppe fordert Aufenthaltsrecht für Betroffene von Menschenhandel
Partnerorganisationen:
SOLWODI arbeitet im Bereich Menschenhandel unter anderem mit den folgenden Organisationen zusammen:
Arbeitsgruppe Menschenhandel der Deutschen Bischofskonferenz
Bund-Länder-AG Menschenhandel
ECPAT Deutschland e.V., https://ecpat.de/
Gemeinsam gegen Menschenhandel, https://www.ggmh.de/
KOK - Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V., https://www.kok-gegen-menschenhandel.de/startseite
RENATE - Religious in Europe Networking Against Trafficking and Exploitation, https://www.renate-europe.net/
Talitha Kum - End Human Trafficking, https://www.talithakum.info/